Künstlerisches und kulturelles Projekt

FRAC Alsace, Florian Tiedje, Anthologia #1, 2018-2019

Naturen (ab 2018)

„Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kultivieren Künstler_innen Lebewesen1, züchten künstliche Steine2, sie machen ästhetische Experimente in wissenschaftlichen Forschungsstationen3, kreieren Blitze und Wolken im virtuellen Raum oder malen den Wald mit Farbe an4. Das Thema Natur liegt angesichts von Klimawandel, Anthropozän und virtueller Naturen in der Luft und die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt.
Bei einer Auseinandersetzung mit dem Thema Natur und Kunst ist es interessant nicht nur das (erneut) aktuelle Thema von „Natur in der Kunst“ zu betrachten; sondern auch jenes der „Natur der Kunst“ und zu fragen: Welche Naturen haben Kunstwerke?
Sind sie widerspenstiger Wildwuchs, genügsame Alpenblumen, Mimosen, nützliche Flechten, resistente Sukkulenten, formvollendete, empfindliche Edelgewächse oder gar unberechenbare invasive Arten?
Manche Werke wollen gesehen werden, drängen sich auf, andere wachen erst aus dem Winterschlaf auf, einige reifen noch, andere sind gerade in der Schonzeit.
Eine Sammlung von Kunstwerken verlangt wie ein Garten Pflege und Zuwendung. Sie ist ein empfindliches Ökosystem, ein schützenswerter Raum für etwas Erschaffenes. Aber auch ein Raum, in dem Neues geschaffen wird, bekannte Werke in Bezug gesetzt werden, neue Arbeiten hinzukommen oder alte Werke wiederentdeckt und erforscht werden.

Das Thema Naturen, als Überbegriff für verschiedene Konzepte und Vorstellungen von Natur (lat. natura: entstehen, geboren werden) soll als Ausgangspunkt für das künstlerische Projekt und die Bewahrung und Erweiterung der Sammlung des FRAC Alsace dienen. Das künstlerische Projekt „Naturen“ schließt an Sammlungsschwerpunkte des FRAC Alsace an, wie Landschaft, und an die künstlerischen Projekte der Vergangenheit, wie Espace et identité, Instants paysagers: approches artistiques contemporaine des territoires. Das Projekt „Naturen“ erweitert diese Schwerpunkte um einen biophilen Blick, der Kunstwerke und eine Kunstsammlung als etwas Lebendes und zugleich auch Systemisches betrachtet. Zugleich geht es von dem Ort aus, von der Region Alsace, mit ihrem reichen Kultur- und Naturerbe, der Landwirtschaft und dem Weinanbau, aber auch von der Architektur des FRAC als Vitrine, die im Sommer auch an ein Gewächshaus erinnert.

Die Repräsentation von Natur spielte in der Geschichte der Bilder seit jeher eine Rolle, angefangen bei prähistorischen Felszeichnungen von Wildtieren, die vermutlich kultische Funktion hatten, über die symbolische Aufladung von Pflanzen in der mittelalterlichen, christlichen Malerei (Lilie, Nelke) bis hin zum englischen Garten und der Landschaftsmalerei der Romantik, in der der Mensch immer die Referenzgröße blieb.
In der zeitgenössischen Kunst arbeiten viele Künstler mit lebendigem Material. Die Vertreter der Land Art wandelten den geographischen Raum in ein Kunstwerk um und der Mitbegründer der Arte Povera, Jannis Kounellis, stellte 1969 lebende Pferde in der Galerie aus. Joseph Beuys brachte die Anthroposophie in die Kunst, kommunizierte mit Tieren und erklärte auch soziale Interaktion zur Kunst.

Heute wird das Thema Natur von Künstler_innen benutzt, um politische Themen zu verhandeln. Invasive Arten und Neophyten wie das indische Springkraut stehen sinnbildlich für das Thema Migration und Probleme der Globalisierung. Zugleich ist das Thema Natur eng mit der Neubewertung von Kultur verbunden und der Einsicht der Interdependenz von beiden.

Lange Zeit wurde in der westlichen Welt Natur und Kultur getrennt. Kultur und damit auch die Kunst wurde als vom Menschen hergestellte „Schöpfung“ vom Konzept Natur unterschieden, welches etwas Ursprüngliches repräsentierte.
Kultur wurde als Fortschritt betrachtet, sie stellte eine Verfeinerung von Natur dar, wovon Begriffe wie Kultivierung und Agrikultur zeugen. Auch das Konzept von Landschaft als vom Menschen geformte Natur (engl. landscape) zeigt, wie sich der Mensch die Natur aneignete und formte.
Die Dualität von Natur und Kultur spiegelte sich auch in der geschlechtsspezifischen Zuschreibung wieder mit dem traditionell männlich dominierten Bereich der Kultur (Jagd, Militär, Wissenschaft) und dem den Frauen zugeordneten, schwerer zu kontrollierenden Bereich der Natur, der Aufgaben wie Sammeln, Gebären und Pflegen umfasste.

Inzwischen ist es auch in der westlichen Kultur Konsens, dass Kultur und Natur untrennbar miteinander verbunden sind und gegenseitig aufeinander einwirken (vgl. Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur, 2005). In vielen außereuropäischen Gemeinschaften gab es die Trennung von Kultur und Natur überhaupt nicht und auch Mensch und Tier standen und stehen in einem sehr engen Verhältnis zueinander.
Diese anderen Sichtweisen helfen, die Konstruktion dieser voneinander getrennten Kategorien, Natur und Kultur, Tier und Mensch im Westen zu hinterfragen, und zu beleuchten, welche Zwecke sie verfolgten, wie z.B. das Sichern der Vormachtstellung des Menschen innerhalb der Natur. Heute ist klar, dass das Konzept des Menschen als „Krone der Schöpfung“ sich angesichts von Umweltzerstörung und Kriegen in das Gegenteil verkehrt hat: Das Problem ist der Mensch.

Diesem Problem des Menschen in der Natur, der zunehmenden Verkünstlichung der natürlichen Umgebung und der Renaturierung des Künstlichen, nehmen sich auch viele Künstler_innen an, deren Aufgabe es von jeher war, die Wirklichkeit zu beobachten und künstlerisch zu befragen. Dabei weiten sie den Begriff der Natur auf den virtuellen und sozialen Raum aus, engagieren sich für gesellschaftliche und politische Themen und schaffen partizipative Modelle.
Es ist die genaue Beobachtung der Wirklichkeit, das Experimentieren und vor allem das Entwickeln von eigenen Fragestellungen, die die Arbeitsweise von Künstler_innen mit jenen von Wissenschaftlern vergleichen lässt. Aber es ist auch der Bruch von Regeln, eine gewisse Widerspenstigkeit, Ergebnisoffenheit und Autonomie, die den Freiraum der Kunst davon abgrenzt. Künstler_innen befragen nicht nur die Wirklichkeit, sondern sie schaffen darüber hinaus eigene Welten, in die wir eintreten können und anhand derer wir, ausgehend von Form und Materie, zur Essenz der Dinge vordringen können.

Im 21. Jahrhundert gibt es immer mehr Künstlerinnen. Männer und Frauen, solche, die Kunst studieren, jene, die erst spät zur Kunst kommen und diejenigen, die schon immer Kunst gemacht haben. Es gibt Künstler aus westlichen Ländern und Kunstschaffende aus Regionen, in denen es bisher kaum Museen und auch keinen Markt gibt und die ganz andere Vorstellungen von Kunst und eine andere Kunstgeschichte haben und die uns dazu bringen, unseren eigenen Kunstbegriff zu hinterfragen. Zugleich gibt es eine Permeabilität der verschiedenen Künste: Die Bildende Kunst integriert Design, Tanz, Musik, Architektur und Informatik/Hacking. Es gibt nicht die eine Kunstszene, sondern ganz unterschiedliche Kunstkontexte. Ein globaler Markt legt Preise für Kunst nach Nachfrage und Angebot fest und ist stark mit öffentlichen und privaten Sammlungen und Kunstinstitutionen verschränkt. Es gibt Künstler_innen, die aus dem „System Kunst“ aussteigen, sich verweigern oder als selbstständige Unternehmer auf dem Markt agieren.

Das Projekt Naturen will nicht nur die Kunstwerke, sondern auch die Künstler_innen und das komplexe Ökosystem der Kunst befragen. Es geht dabei von den Werken des FRAC Alsace aus und wirft einen neuen Blick auf die Sammlung als Lebewesen und Ökosystem. Wie sieht es mit der Biodiversität aus, mit Interdependenzen, Symbiosen, mit Wachstum, Pflege und Präsentation? Welche Rolle spielen wir dabei als Gärtner, Förster, Biologen oder Touristen? Und wie verschränken sich globale künstlerische Biodiversität mit regionalen und lokalen Kunst-Ökosystemen?

Offenheit, Vermittlung und persönliche Begegnungen sind essentiell: Grundsätze, denen das FRAC seit fast 35 Jahren verpflichtet ist, mit seinem Bildungsauftrag, der Bewahrung und Verbreitung der Sammlung und zahlreichen Projekten innerhalb und außerhalb des Ausstellungsraums.

Interdisziplinarität, praktische künstlerische Arbeit in Workshops, Gespräche mit Künstler_innen, aber auch offene Angebote wie Wanderungen sollen ein heterogenes Publikum ansprechen und Raum für Diskussionen und Austausch geben.“

Felizitas Diering
Direktorin des FRAC Alsace

(1) Daniel Steegmann Mangrané, Pierre Huyghe, Maria Thereza Alves
(2) Julian Charrière
(3) Pierre Huyghe, Agnes Meyer-Brandis
(4) Julius von Bismarck