Nicolas BOULARD, Extrait de, Diagonale, 2005, Vidéo, 7'04, © ADAGP, Paris, 2023
FRAC Alsace

Chères Hantises

Une exposition conçue par les etudiant·es du Master Critique-Essais de l’Université de Strasbourg
25.03–04.06.2023
patrick bailly-maître-grand, clément cogitore, edith dekyndt, dominique petitgand, capucine vandebrouck, mali arun, werner berges, nicolas boulard, julien discrit, joséphine kaeppelin, marianne mispelaëre, vladimir Škoda, jean-luc vilmouth, davide balula, morgane britscher, tom burr, willem cole, colette deblé, hélène fauquet.

Die Ausstellung Chères Hantises vereint Werke von 19 KünstlerInnen aus den Sammlungen des FRAC Alsace, des FRAC Lorraine und des FRAC Champagne-Ardenne rund um die Begriffe Geisterbild, Phantasie und (Wieder) Erscheinung vereint:


Mali Arun, Patrick Bailly-Maître-Grand, Davide Balula, Werner Berges, Nicolas Boulard, Morgane Britscher, Tom Burr, Clément Cogitore, Willem Cole, Colette Deblé, Edith Dekyndt, Julien Discrit, Hélène Fauquet, Joséphine Kaeppelin, Marianne Mispelaëre, Dominique Petitgand, Vladimir Škoda, Capucine Vandebrouck, Jean-Luc Vilmouth.

Diese Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Universität Straßburg wurde von den Studierenden des Masterstudiengangs Critique Essais: écritures de l’art contemporain konzipiert: Morgane Akyuz, Lisa Christ, Rose Defer, Louise Delval-Kuenzi, Marine Le Nagard, Théo Petit-D’Heilly, Marion Zinssner. Die Studierenden wurden von Janig Begoc und Simon Zara sowie von den Teams der drei FRAC des Grand Est begleitet.

« Chères Hantises »

Im Altfranzösischen bedeutete „hanter“, einen Ort zu bewohnen. Eine semantische Verschiebung hat stattgefunden und der Begriff hat später eine pejorative Bedeutung angenommen. Der Spuk bewohnt Orte, die nicht mehr besetzt sind; er manifestiert sich als Prozess und als Ergebnis wie die Erinnerungen, die wir zu vergessen versuchen. Indem er zwischen beängstigender Invasion und obsessiver Beschäftigung schwankt, wirkt er an einem Ort oder in einem Geist. Unsere Heimsuchungen leben in uns. Die Ausstellung „Chères hantises“ (Liebe Heimsuchungen) lädt uns ein, sie zu akzeptieren, zu verstehen und zu hegen.
Ausgehend vom Phänomen des Spuks tauchen in unserem Gedächtnis gespeicherte Erinnerungen auf und werden zu dem, was wir als „Geisterbilder“ bezeichnen könnten. Obwohl sie nicht greifbar sind, fühlen wir sie. Jeder Mensch ist von tief vergrabenen Erinnerungen, Bildern und Bezügen beseelt, die manchmal wieder auftauchen. Der Spuk ist also ein Phänomen, das es unseren „Geisterbildern“ ermöglicht, unabhängig von unserem Willen in uns zu bleiben. Um das Auftauchen von mentalen Bildern zu beschreiben, können wir von „Wiedererweckung“ sprechen. Die Fähigkeit, diese mentalen Bilder zu erzeugen, wird hingegen mit dem Begriff Phantasie bezeichnet.

„Wie seltsam sind die alten Erinnerungen, die einen verfolgen, ohne dass man sie loswerden kann „[1]

Wie Maupassant in „Le Horla“ schreibt, kehren bestimmte Erinnerungen immer wieder zurück und verfolgen uns. Im Altfranzösischen bedeutete „hanter (spuken)“, einen Ort zu bewohnen. Es kam zu einer semantischen Verschiebung und der Begriff erhielt später eine pejorative Bedeutung. Der Spuk bewohnt Orte, die nicht mehr besetzt sind; er manifestiert sich als Prozess und als Ergebnis wie die Erinnerungen, die wir zu vergessen versuchen. Indem er zwischen beängstigender Invasion und obsessiver Beschäftigung schwankt, wirkt er an einem Ort oder in einem Geist.

Die Ausstellung „Chères hantises“ (Liebe Heimsuchungen) enthüllt dieses zugleich spürbare und nicht greifbare Phänomen und versucht, einen neuen Zugang zu ihm zu finden. Es ist in der Tat möglich, es zu akzeptieren, zu verstehen und zu genießen. Die Wahl des Wortes „lieb“, das für eine Briefkorrespondenz und eine liebevolle Beziehung zu unseren Heimsuchungen steht, ist ein Zeichen dieser Akzeptanz.

Ausgehend vom Phänomen des Spuks tauchen in unserem Gedächtnis gespeicherte Erinnerungen auf und werden zu dem, was wir als „Phantombilder“ bezeichnen könnten. Diese Bilder sind nicht notwendigerweise sichtbar, sondern eher wahrnehmbar. Obwohl sie nicht greifbar sind, fühlen wir sie. Jeder Mensch hat tief vergrabene Erinnerungen, Bilder und Bezüge, die manchmal an die Oberfläche kommen. Der Spuk ist also ein Phänomen, das es unseren „Geisterbildern“ ermöglicht, unabhängig von unserem Willen in uns zu bleiben. Um das Auftauchen von mentalen Bildern zu beschreiben, können wir von „Wiedererweckung“ sprechen. Die Fähigkeit selbst, diese mentalen Bilder zu erzeugen, wird hingegen mit dem Begriff Phantasie bezeichnet.

Die Bilder, die wir im Kopf behalten, kehren mal deutlich, mal vage zurück und tauchen manchmal durch eine sinnliche Erfahrung wieder auf. Durch die Zusammenstellung von Werken, die ein Bewusstsein für die Bilder in uns fördern, wendet sich die Ausstellung an die „Geister“ unseres Gedächtnisses und lädt uns ein, sie zu hegen und zu pflegen.

Ob physisch oder mental, Bilder spuken in unseren Städten und in unserem Alltag herum. Einige von ihnen drängen sich unserem Blick durch neue Technologien auf. Während die Bilder aus den Medien wie visuelle Aufforderungen erscheinen, die unser Handeln, unser Sein und unser Aussehen beeinflussen, bietet die Ausstellung eine andere Art von Erfahrung. Hier wird der Frac Alsace zum Ort, an dem sich das Phänomen des Wiedererkennens aus unserem Unterbewusstsein heraus manifestiert, das von den Werken geleitet wird. Im Gegensatz zu den Bildern, die unsere Umwelt sättigen, unterstreicht die Erfahrung der Ausstellung somit unsere Fähigkeit, Bilder zu erschaffen. Sich mit den von den Werken erzeugten Bildern zu konfrontieren, bedeutet, sich auf sich selbst zu konzentrieren, indem man eine Arbeit der Introspektion durchführt, um sich selbst wiederzuentdecken.

GEISTERBILD

Phantombilder“ entstehen aus Erinnerungen, die im Unterbewusstsein vergraben sind, und können durch einen äußeren Auslöser wiederkehren. Wie Geister erstrecken sie sich über das Sichtbare hinaus; trotz ihrer visuellen Qualität als „Bild“ können sie alle Sinne ansprechen, um zu existieren.

In der Fotografie vergibt Hervé Guibert diesen Namen für eine verpasste Aufnahme. Das „Geisterbild“ des verschwundenen einzigartigen Moments existiert in der Erinnerung des Fotografen, bleibt aber auf dem Film unsichtbar. In der Druckgrafik bezeichnet es die Rückstände alter Abzüge. In der Augenheilkunde kann es auch ein Hinweis auf Doppelbilder sein. In jedem Fall ist das Auftreten des „Geisterbildes“ nie kontrollierbar.

Die Ausstellung ruft das Wiederauftauchen von „Geisterbildern“ hervor, indem sie dem Betrachter verschwommene Fragmente anbietet. In Colette Deblé’s Boîte fenêtre erscheinen uns nach und nach Bilder, wie eine Erinnerung oder eine sich verdeutlichende Erzählung. Die verschwommenen Gesichter und die manchmal kaum skizzierten Gesichtszüge verleihen den Zeichnungen eine unfassbare und ungreifbare Präsenz, die das Auftauchen von „Geisterbildern“ begünstigt. Dieser dunstige Effekt entfaltet sich auch in der Daguerreotypieserie Sans Titre von Patrick Bailly-Maître-Grand, die die Fensterläden und das Innere eines Hauses ohne jedes Lebenszeichen enthüllt. Obwohl das Gebäude leer ist, scheint es eine geisterhafte Präsenz zu beherbergen, die die Kamera nicht einfangen konnte. Davide Balulas Un air de fête schließlich besteht aus einem Ballon, der in der Stille über einem Plattenspieler schwebt, und zeigt die Spuren eines festlichen Moments. Es liegt an den Zuschauern, sich die Musik vorzustellen, die der Ballon enthalten könnte.

PHANTASIA

Phantasia wird von Platon als die Art und Weise definiert, wie uns die Dinge innerlich erscheinen. Dieses Phänomen, das sich auf die Erzeugung geistiger Bilder bezieht, ist grundsätzlich mit unseren Sinnen verbunden: Diese Bilder werden aus unseren Erinnerungen konstruiert, die wiederum mit den Gefühlen und Empfindungen verbunden sind, die während eines vergangenen Ereignisses empfunden wurden. Durch die Wiedererinnerung an bestimmte Erinnerungen und Bilder versetzt uns der Phantasiemechanismus in einen traumähnlichen Wachzustand, der es uns ermöglicht, uns wieder mit vergangenen Gefühlen zu verbinden und neue zu erschaffen.

In der Ausstellung ist dieser Prozess der mentalen Visualisierung insbesondere in Morgane Britschers Donner à voir zu beobachten. Das Werk, das in Form einer Visitenkarte präsentiert wird, schlägt den BetrachterInnen vor, sich an eine Erinnerung zu erinnern und diese zu teilen, indem sie sie einer dritten Person beschreiben. Palimpseste (Fluchtstrategie) von Marianne Mispelaëre ist eine Wandarbeit, die aus einer rechteckigen, gummierten Oberfläche besteht und die Spuren einer früheren Präsenz suggeriert. Indem sie uns einlädt, den leeren Raum gedanklich zu füllen,gibt die Installation Raum für eine Fluchterfahrung und wird zu einer Oberfläche, durch die man fliehen könnte.

REVENANCE

Das Phänomen der Revenance ist aufgrund seiner Unabgeschlossenheit eng mit dem Spuk verbunden. Es besteht aus der Wiederholung und dem Wiederauftauchen eines Ereignisses und kann zu Zuständen des Wiederkäuens führen. Im Gegensatz zum Spuk, der sich kontinuierlich entwickelt, manifestiert sich das Wiedererleben dynamisch: Bilder, Empfindungen und Geräusche steigen in uns auf, obwohl sie vergraben waren. Wie tote Präsenzen wandern sie umher und „kehren“ in unseren Gedanken zurück.

Einige Werke wirken wie Aktivatoren unterirdischer Präsenzen, die immer in Aktion sind. Capucine Vandebroucks Skulptur, die an ihren Enden an der Wand hängt, und Vladimir Škodas reflektierende Kugel auf dem Boden wirken auf uns, indem sie ihre Umgebung widerspiegeln. Sie laden uns dazu ein, Verbindungen zwischen dem, was wir tatsächlich sehen, und den Erinnerungen, die wieder auftauchen, herzustellen.

Die Fotografie von Clément Cogitore zeigt eine von der Dunkelheit verwischte Szene der Kreuzabnahme, die entschlüsselt werden muss. Figuren aus der religiösen Ikonografie können in unseren Köpfen wieder auftauchen.

Die Wiederkehr manifestiert sich auch durch den Klang in Dominique Petitgands Klanginstallation Je, in der vier Lautsprecher auf dem Boden verstreut sind und Stimmen abspielen, die Handlungen aussprechen. Ausgehend von diesen Worten und Intonationen visualisieren wir Bilder, die vergessene Erinnerungen hervorrufen können.

Neben dem Phänomen des Wiedererkennens spielt die Ausstellung auch mit der Wiederkehr bestimmter Formen oder Figuren, insbesondere des Stuhls und der Kugel. Der Stuhl steht in Susan’s Sleeping auf einem Sockel, in Vues d’une chaise an der Wand und in der Installation Je Vous Donne des Couleurs – Il faut voir vor den beiden Tafeln. Da sie leer ist, deutet sie darauf hin, dass sich eine Person dort niedergelassen und sie wieder verlassen haben könnte. Er symbolisiert daher eine unsichtbare oder nicht wahrnehmbare menschliche Spur. In manchen Kulturen wird ein leerer Stuhl traditionell vor den Häusern stehen gelassen, damit die Geister der Vorfahren sich dort ausruhen können, ohne einzudringen. Ähnlich wie bei bestimmten psychotherapeutischen Techniken fungieren Möbel als Projektionsfläche für unsere Emotionen. In Susan’s sleeping kann der unbesetzte Stuhl zum Gefäß für eine fiktive Begegnung zwischen den Zuschauern und der abwesenden Susan Sontag werden. Während die leeren Stühle von Tom Burr und Jean-Luc Vilmouth auf eine Persönlichkeit oder einen Ort verweisen, lassen uns die Stühle in Willem Coles Werk mit unseren eigenen Empfindungen konfrontiert werden. In der Ausstellung fördert das Vorhandensein dieser Möbel die Wiederbelebung von Erinnerungen, die in der Schwebe geblieben sind, und regt zur Selbstbeobachtung an.

Die Kugel wiederum taucht in Form eines Ballons durch Major Tom und Un Air de Fête auf; sie erscheint in den Pixeln von Diagonale und reflektiert den Raum in Harmonices Mundi. Ähnlich dem Luftballon aus unserer Kindheit erscheint diese Form als Ausgangspunkt von Reminiszenzen. Die Kugel, ebenfalls ein Symbol für das Universum und seine Macht, gibt Anlass zu einem Schwanken zwischen der Realität dessen, was wir sehen, und den „Geisterbildern“, die uns begleiten. Indem sie dem Betrachter Werke anbietet, die das Auftreten von „Geisterbildern“ begünstigen, lädt Chères Hantises uns dazu ein, im Ausstellungsraum manchmal weit zurückliegende Erinnerungen zu mobilisieren. Die von den Werken angesprochene Phantasiefähigkeit ermöglicht es uns, diese „Geisterbilder“ zu visualisieren und sie auf andere Weise wahrzunehmen. Unsere Heimsuchungen leben in uns weiter. Es liegt an uns, sie zu akzeptieren, zu verstehen und zu hegen.


[1] Incipit de la nouvelle Clochette, Maupassant, initialement publiée dans le recueil Le Horla en 1887.

BESUCHERINFORMATIONEN

öffnungszeiten:
Mittwoch bis Sonntag von 14h bis 18h. Eintritt gratis. Regelmässige Führungen (spontan und auf Anfrage)

DOWNLOAD : Saaltexte, Pressebilder und Kunstvermittlung

Künstler*innen

Clément Cogitore
1983, Colmar (Haut-Rhin, France)
Edith Dekyndt
1960, Ypres (Belgique)
Dominique Petitgand
1965, Laxou (Meurthe-et-Moselle, France)
Capucine Vandebrouck
1985, Tourcoing (Nord, France)
Mali Arun
1987, Colmar (Haut-Rhin, France)
Werner Berges
1941, Cloppenburg (Empire fédéral allemand)
Julien Discrit
1978, Épernay (F)
Marianne Mispelaëre
1988, Bourgoin-Jallieu (Isère, France)
Vladimir Škoda
1942, Prague (Tchécoslovaquie)
Jean-Luc Vilmouth
1952, Creutzwald (Moselle, France)
† 2015, Taïpei (République de Chine (Taïwan))

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